Wo ist die Schweiz?

5 Veröffentlicht von Michael Piotrowski am

Seit Jahren nun beobachten die statistischen Auswertungen der DHd-Tagung eine Unterrepräsentation der Schweiz. Henny-Krahmer und Sahle stellten im Nachgang zur DHd 2018 fest:

Auffällig ist hier die enorme Unterrepräsentanz der Schweiz. Diese war aber auch schon für die Tagung 2016 in Leipzig von José Calvo Tello festgestellt worden. Rechnet man auf Einwohnerzahlen um, dann ergeben sich für die Länder 6,8 (AT) bzw. 5,4 (DE) bzw. 1,2 (CH) Beiträge je einer Million Einwohner.

Für die DHd 2019 kommt Hoenen zum Schluss:

Auffällig ist, dass Österreich im Gegensatz zur Schweiz pro Kopf deutlich mehr mitarbeitet (ca. 1 Autorenschaft pro 200.000 Einwohner, was in etwa auch der deutschen Rate entspricht gegenüber 1 pro 560.000 – also fast 3 mal so viel oder besser dreimal so wenig; der Fairness halber müsste man vielleicht noch die nicht Deutsch-Schweizer abziehen, aber an einer Unterrepräsentation würde das nichts ändern). Die Österreichischen Zahlen erscheinen noch bemerkenswerter, wenn man in Betracht zieht, dass die österreichische DHa Konferenz einmal jährlich stattfindet, während Unterrepräsentation der Schweiz sich auf dem Weg zu einer Tradition befindet, siehe Tello, Henny-Krahmer/Sahle.

Woran könnte das liegen? Zunächst sollte man die Zahlen korrigieren: Hoenen hat richtig beobachtet, dass nicht die ganze Schweiz deutschsprachig ist. Dies ist insbesondere auch deshalb relevant, weil man an den Zahlen auch sehen kann, dass die DHd-Tagung nur eine geringe Ausstrahlung über den deutschsprachigen Raum hinaus hat – was ja auch nicht das Ziel der DHd ist. Bei den meisten Einreichungen von ausserhalb des deutschsprachigen Raums handelt es sich wahrscheinlich um Einreichungen deutschsprachiger Autoren: Kiefer bemerkt in ihrer Auswertung der DHd 2019, dass es zwar insgesamt zwölf Einreichungen aus nicht-deutschsprachigen Ländern gibt, im Programm aber nur fünf Beiträge in englischer Sprache zu finden sind, viele von diesen jedoch von Autoren aus deutschen Institutionen eingereicht wurden.

Es stimmt auch, dass auch wenn man die lateinische Schweiz abzieht, das nichts an der Unterrepräsentation ändert, dennoch sollte man mit den korrekten Zahlen rechnen. Tatsächlich sind ca. 66 % der Einwohner der Schweiz deutschsprachig, das ergibt also eine Einwohnerzahl von ca. 5,5 Millionen. Rechnet man auf dieser Basis, kommt man zu folgenden Ergebnissen: Die 1,2 Beiträge pro Million Einwohner für 2018 werden zu 1,8 Beiträgen; für 2019 werden dann aus der 1 Autorschaft pro 560’000 Einwohner 1 Autorschaft pro 366’000 Einwohner.

Trotzdem stellt sich die Frage nach möglichen Gründen für die geringere Beteiligung. Ein erster, ganz praktischer Grund ist, dass (mit Ausnahme der DHd 2017 in Bern) die Tagung nach dem Beginn der Vorlesungen in der Schweiz liegt – das Frühlingssemester beginnt jeweils Mitte Februar. Das macht eine Teilnahme oft schwierig oder unmöglich, weshalb auch ich dieses Jahr nicht teilnehmen konnte.

Ein zweiter Grund ist meines Erachtens in einer geringen Institutionalisierung der Digital Humanities in der Deutschschweiz zu suchen: Es gibt bislang nur eine deutschsprachige Institution, die DH im Namen führt, das DHLab an der Universität Basel mit zwei entsprechenden Professuren. Es gibt zwar das DH Institute an der EPFL mit 4 Professuren und 2 DH-Professuren an der Universität Lausanne (UNIL), aber das ist eben die Romandie: wenn wir uns an die Sprachenverteilung erinnern, ist also die französischsprachige Schweiz sehr viel aktiver als die Deutschschweiz, mit Lausanne als Hotspot (den wir durch ein gemeinsames DH-Zentrum von UNIL und EPFL noch weiter stärken wollen). In Basel wird auch der bislang einzige DH-Masterstudiengang der Deutschschweiz angeboten – aber, wenn ich das richtig sehe, erst ab dem Herbstsemester 2019. Es gibt also bisher in der Deutschschweiz weder auf Stufe Master noch auf Stufe Doktorat Studierende, die explizit DH studieren. In Bern wird es demnächst wieder eine DH-Professur geben, aber ein Studiengang ist dort offenbar erstmal nicht geplant. In Lausanne kann man DH dagegen sowohl an der UNIL als auch an der EPFL studieren; tatsächlich war das Masterprogramm der UNIL das erste DH-Programm in der Schweiz).

Ein dritter Grund ist, dass der Schweizerische Nationalfonds (SNF), die wichtigste Schweizer Institution zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, interdisziplinäre Forschung (ausserhalb des Sinergia-Programms) faktisch nicht fördert, so dass es keine gemeinsamen Projekte von Informatik und Geisteswissenschaften mit einer Kooperation «auf Augenhöhe» gibt, die sich dann gemeinschaftlich in den Digital Humanities verorten würden (und dann potentiell Beiträge zur DHd oder auch zur DH Conference einreichen würden). Dies ist kein Zufall, sondern ein bewusster Entscheid.

Grundsätzlich sollen Gesuche um Beiträge der Projektförderung von Einzelpersonen eingereicht werden; mehrere Gesuchstellende sind ausnahmsweise zugelassen, «wenn das Forschungsprojekt dies erfordert». SNF-Vertreter geben jedoch freimütig zu, dass die Erfolgsquote für interdisziplinäre Gesuche deutlich geringer ist, da sie ja in beiden Disziplinen exzellent sein müssen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit; die ganze Wahrheit findet sich auf der Webseite zur Projektförderung des SNF, auf der es heisst:

  • Kollaborative Gesuche mit mindestens zwei Gesuchstellenden innerhalb eines Forschungsfeldes oder mit einer Hauptdisziplin, die von Hilfsdisziplinen ergänzt wird, können in der Projektförderung eingereicht werden. […]
  • Kollaborative Projekte über Disziplinengrenzen hinweg werden mit Sinergia gefördert.

Sinergia wiederum ist nur für grosse, «bahnbrechende», «high-risk high-reward» Projekte gedacht, und es wird von den Gesuchstellern auch eine entsprechende Erfahrung im Projektmanagment gefordert.

Die in der Projektförderung geförderten Projekte, die man in der P3-Datenbank findet, spiegeln das wider: Praktisch alle Projekte, die das Stichwort «Digital Humanities» haben, sind faktisch Projekte in einer geisteswissenschaftlichen Disziplin, die eben mehr oder weniger die berühmten «digitalen Methoden» verwenden. Nach meiner Definition handelt es sich hier um angewandte Digital Humanities. Angesichts des oben beschriebenen Umfelds und der klaren disziplinären Zuordnung besteht für die Projektteilnehmer überhaupt kein Grund, sich mit den Digital Humanities zu identifizieren, zumal die Nutzung «digitaler Methoden» heute in den meisten geisteswissenschaftlichen Disziplinen durchaus akzeptiert und somit publikationsfähig ist – zumindest bis zu einem bestimmten Punkt, der von den wenigsten Projekten überschritten wird (was wahrscheinlich auch mit der Begutachtungspraxis des SNF zusammenhängt, die ich hier aber nicht thematisieren möchte).

Es findet sich auch eine Handvoll Projekte in der Informatik mit dem Schlagwort Digital Humanities. Diese Projekte können nach meiner Definition den theoretischen Digital Humanities zugeordnet werden. Hier gilt prinzipiell das Gleiche, zudem ist die Publikationskultur der DH eher geisteswissenschaftlich geprägt und somit für Informatiker weniger interessant.

Schliesslich ist auch noch zu erwähnen, dass es in der Schweiz bislang auch keine speziellen Förderlinien oder -programme für Digital Humanities gibt. Die einzigen Ausnahmen waren letztes Jahr die einmalige Ausschreibung Digital Lives, die eigentlich zur Vorbereitung des Nationalen Forschungsprogramms «Digitale Transformation» (NFP 77) dienen sollte (das jetzt aber eine deutlich andere Ausrichtung hat) sowie die (ebenfalls einmalige) Ausschreibung «Digitale Transformation» der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW), deren Zielsetzung im laufenden Verfahren (nachdem man 230 Einreichungen erhalten hatte) auf «praxisorientierte Wirkungen bei Kinder und Jugendlichen und der Bevölkerung» (sic!) geändert wurde.

Mein Fazit? Auch wenn ich mit dem Schweizer Wissenschaftssystem gut vertraut bin, erhebe ich selbstverständlich nicht den Anspruch, die Unterrepräsentation der Deutschschweizer Forschung bei den DHd-Tagungen vollumfänglich erklären zu können. Die geringe Institutionalisierung der DH in Lehre und Forschung und die Förderpolitik des SNF, die «kleine» interdisziplinäre Projekte explizit ausschliesst, tragen jedoch sicherlich strukturell zu einer Unterrepräsentation bei.

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  • Melanie Seltmann

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    Lieber Michael,
    Danke für das Lichtbringen in die DH-dunkle Schweiz! Einzig deinen ersten Punkt möchte ich ein wenig entkräften: Dann auch bei uns in Österreich liegt die Tagung meistens im Semester (Start 1.3.). Die weiteren Ausführungen finde ich ziemlich interessant. Andere Länder, andere (Förderungs-)Sitten würde da wohl ganz gut passen…
    Liebe Grüße vom andern kleinen Nachbarn, Melanie

    • Michael Piotrowski

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      Liebe Melanie,

      vielen Dank für den Kommentar und den Hinweis auf den Semesterbeginn in Österreich. Ich habe bewusst auf einen Vergleich D-A-CH verzichtet, da man dafür erstens alle Systeme sehr genau kennen müsste und man zweitens Gefahr läuft, sich auf einfach quantifizierbare Kriterien zu beschränken.

      Schöne Grüsse

      • Melanie Seltmann

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        Ja, das stimmt natürlich. Nichtsdestotrotz ist so ein Vergleich sehr spannend (eben weil man selten alle drei+ Perspektiven hat).

  • Erna

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    Danke für diesen tollen Blog. Macht weiter so.

  • Barbara Flückiger

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    Das ist in der Tat ein Riesenproblem in der Schweiz, das Fehlen von Fördergefässen, aber auch die institutionelle Seite. Da in den Geisteswissenschaften die Mehrheit der Professuren nicht mit digitalen Methoden arbeiten, fehlt das Verständnis im Kollegium überwiegend.

    Auch sind Video-Analyse-Tools gegenüber Sprachwissenschaften massiv unterrepräsentiert, nicht nur in der Schweiz, sondern global.

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