Die Geburt der Theorie aus dem Geiste der Kritik – oder wie zwei neue Publikationen den Stand der Digital Humanities reflektieren

3 Veröffentlicht von Niels-Oliver Walkowski am

Eine der spannendsten Diskussionen in den Digital Humanities konzentriert sich auf die Frage, was sich sinnvoll mit diesem Begriff verbinden lässt. Interessant ist diese Frage vor allem deshalb, weil sie die Suche nach dem Kern dessen betrifft, was wir Digital Humanists täglich praktizieren und womit wir uns identifizieren. Doch gerade in implementierenden Projekten bleibt zu wenig Zeit für derartige Reflexionen. Einige Disziplinen tendieren dazu, eine solche reflexive Perspektive grundsätzlich aus der alltäglichen Arbeit „outzusourcen“ und sie als Meta-Knowledge zu begreifen (Evans & Foster 2011). Die Schwierigkeit dieser Strategie liegt darin, dass sie die Grundlagen und Voraussetzungen einer Forschung oder einer Forschungsrichtung in etwas Statisches verwandelt, das damit nicht mehr denselben Prinzipien zeitlicher, räumlicher und sozialer Abhängigkeit unterworfen ist wie die projektbezogene Forschung selbst. Gerade Geisteswissenschaftler haben durch ihre alltägliche Arbeit gegenüber dieser Problematik ein besonderes Verhältnis entwickelt. Im Bereich der Digital Humanities lassen sich ganz unterschiedliche Bestrebungen finden, einen Begriff davon zu entwickeln, welchem Konzept der eigenen Wissenschaft man sich zugehörig fühlt. Am bekanntesten dürften dabei wohl offensive Ansätze sein, wie z. B. das Digital Humanities Manifesto 2.0, das eine regelrechte Mobilisierung der Community zur Folge hatte (UCLA 2009). Ein ganz anderer, dagegen fast schon nüchtern anmutender Ansatz ist die empirische Studie The Landscape of Digita Humanities (Svensson 2010). Hier wurde die Diversität an Projekten und Initiativen untersucht, die sich selbst dem Feld der Digital Humanities zuordnen. Trotz zahlreicher weiterer Aktivitäten rund um eine Standortbestimmung fällt seit jüngerer Zeit jedoch auf, dass zunehmend auch kritische Stimmen aus dem Bereich der Digital Humanities selbst ihre Unzufriedenheit gegenüber einem Mangel an reflexiver, theoretischer oder kritischer Durchdringung des Feldes äußern. Stellvertretend mag der Vortrag von Alan Liu auf der Modern Language Association Convention 2011 genannt werden, in dem konstatiert wird:

In the digital humanities, cultural criticism – in both its interpretive and advocacy modes – has been noticeably absent by comparison with the mainstream humanities (Liu 2011)

Darüber hinaus wurde auf Digital Humanities Now unter dem Titel „Digital Humanities and theory round-up“ eine Zusammenstellung an Blog-Artikeln veröffentlicht, die sich der Rollenbestimmung von Theorie in den Digital Humanities widmete (ohne Autor 2011). Und zum Jahresende suchte Frederick Gibbs schließlich noch den „critical discourse in the digital humanities“ (Gibbs 2011). Auch der jüngst stattgefundene „Cologne Dialogue on Digital Humanities“ war nicht unbeeinflusst von diesem sich entwickelnden Thema, so wenn z. B. Willard McCarty im Prelimanry Paper schreibt „it’s the worrying I take interest in. This worrying is worth far more to us than to be treated either as romantic reaction or as premonition“ (McCarty 2012, p.4) und dieser Sorge um die „Idee der Geisteswissenschaften“ seinen Vortrag widmet.

Um ein Analysewerkzeug für die beschriebenen Entwicklungen und Äußerungen zu entwickeln, bietet sich ein Anschluss an die hybride Grundkonstellation der Digital Humanities selbst an. Digitale Techniken erscheinen immer noch derart messianisch und besitzen eine solche Innovationsdynamik, dass sie die Vorstellung produzieren, als würde sich die Welt innerhalb der digitalen Techniken reproduzieren. Ein Motiv, welches z. B. in der Rede über die Digital Natives zum Ausdruck kommt, die alles nur noch digital machen. Bezogen auf die Geisteswissenschaften kommt diese Denkart im Blog von Lauren Klein zum Ausdruck, wenn ein Autor das Unternehmen Digital Humanities beschreibt als: „Taking humanities and putting them into a digital format“ (cpeagler1 2012). Wie eine breit angelegte, empirische Studie vor kurzem deutlich gemacht hat, ist der Ansatz des nativ Digitalen eine Mär. Vielmehr kommt es 30 Jahre nach der Etablierung dieses Begriffs zu komplexen und unterschiedlichen Arrangements zwischen digital vermittelten Handlungsweisen und anderen Praktiken (Shah 2011). Um in der beliebten Werkzeugmetapher zu bleiben, die gerne bei der Konzeption von Tools benutzt wird, bedeutet dies im Bereich der Digital Humanities, nicht nur bei einer Suche nach digitalen Werkzeugen/Tools zu verweilen. Vielmehr sollte die Werkzeugmetapher im Rahmen andauernder Reflexion auch auf digitale Techniken als solche angewendet werden. Bevor man das zuvor formulierte Bedürfnis nach einer derartigen Reflexion in einer sehr einfachen Argumentation lediglich als eine gewöhnliche Begleiterscheinung eines Medienwechsels verwirft, ist zu bedenken, dass hiermit auch eine im Kern geisteswissenschaftliche Tätigkeit verworfen werden würde, die immer darin bestand,

nicht nur Lösungen für Probleme anzubieten, (…) sondern über die eigentliche Form dieser Probleme nachzudenken; ein Problem auch genauso zu erkennen, wie wir ein Problem wahrnehmen. (Zizek 2010)

Es sagt also etwas über das Feld der Digital Humanities aus, wenn die bloße Bedürfnisformulierung nach dieser ureigensten geisteswissenschaftlichen Bewegung bei einigen Skepsis und Kritik hervorruft. Gegenteilig könnte man diese Entwicklung auch als Erfolgsgeschichte der Digital Humanities werten. Sie markiert einen Prozess, in dem die Digital Humanities sich wirklich in den Geisteswissenschaften verankern und den Status einer „eingeschworenen Gemeinde“ verlassen. Auch aus der Perspektive empirisch arbeitender Richtungen, die weniger Anlass für ein epistemisch begründetes Zaudern verspüren, sollte eine solche Auseinandersetzung begrüßt werden. Schließlich bietet sie doch die Möglichkeit, vermeintliche oder reale Vorurteilen und Barrieren zu entkräften. Um der Pointe halber diese Beobachtung etwas zu pauschalisieren, ließe sich sagen, dass in den geisteswissenschaftlichen Publikationen in Zusammenhang mit digitalbasierten Medien das diffuse Feld der Digital Humanities bisher primär die Rolle übernahm, die Möglichkeiten dieser Medien für die geisteswissenschaftliche Forschung zu propagieren. Eine Reflexion dieser Medien fand vorwiegend in Bereichen der Medientheorie und der Kulturwissenschaften statt. Für die dortige Forschung waren digitale Medien aber mehr ein Objekt der Forschung denn ein Objekt, mit dem geforscht werden könnte. Durch diese Distanz praktizierten beide Diskursräume in der Vergangenheit zu häufig unabhängig voneinander. Gerade hier findet aber zur Zeit eine Verschiebung statt. Diese zeigt sich, so die angestrebte Pointe und gleichzeitig eigentlicher Anlass dieses Posts, in zwei nahezu zeitgleich publizierten Büchern der letzten Monate:

  • Berry, David M. (Hrsg.): Understanding Digital Humanities, Palgrave Macmillan 2012.

  • Gold, Matthew K. (Hrsg.): Debates in the Digital Humanities, Minneapolis, London: University of Minnesota Press 2012.

Beide Publikationen beinhalten eine Sammlung von Aufsätzen, die versuchen, das Feld Digital Humanities zu erschließen, zu theoretisieren und zu kontextualisieren. Dabei hat sich David Berry von der Universität in Swansee als Herausgeber von „Understanding Digital Humanities“ bisher dem Thema vor allem aus medientheoretischer Richtung genähert. Dazu zählen Beiträge, wie „The Philosophy of Software“ (Berry 2011) oder auch „The Computational Turn“ (Beavers et al. 2011). „Debates in the Digital Humanities brings together leading figures in the field“ und war daher von vornherein stärker als Selbstreflexion der Community konzipiert. Der Umstand, dass einige Autoren in beiden Büchern auftauchen, sowie die stärkere Fokussierung der Medienphilosophie auf das Feld der Digital Humanities jenseits des überfrachteten Forschungsgegenstandes „Computation“ bezeugen die angesprochene Entwicklung. In einer ersten Reaktion auf die Debates durch Ramsay (Ramsay 2012) begrüßt er zwar die Publikation, belastet sie aber gleichzeitig wieder dadurch, dass er der Suche nach einer intensiveren theoretischen Durchdringung der Digital Humanities und der partiell kritischen Distanz einiger Autoren die Ursache der Ängstlichkeit unterstellt. Hoffnungsvoll bleibt er „not because it (die Debates in Digital Humanities, A.d.V.) shows no signs of the anxieties I’ve mentioned, but because “debate” always holds out the possibility that benevolence will be the result.“ Wer so argumentiert, hat für sich im Vorfeld bereits definiert, was das Ziel dieser Diskussion sein soll, und hofft nun auf das „Wohlwollen“ der Diskutierenden. Jenseits seiner Angst, dass dies nicht passieren könnte, sollten wir uns verdeutlichen, dass eine ernsthafte Debatte selbst definiert, wie Ergebnisse und Kriterien „zum Wohle“ der Sache aussehen könnten. Eine Debatte deren Maßstäbe von vornherein festgelegt sind, ist keine offene Debatte mehr, und sie wird mit Sicherheit auch nicht das Unbehagen – Unbehagen, nicht Angst – beseitigen, aus der sie hervorgegangen ist. Vielmehr muss es darum gehen diesem Unbehagen eine wissenschaftliche Form zu geben und dies geschieht in der Theorie.

In diesem Sinne, viel Spaß beim Lesen und Denken…

 

Anon, 2011. Digital Humanities and Theory Round-Up. Digital Humanities Now. Available at: http://digitalhumanitiesnow.org/2011/11/digital-humanities-and-theory-round-up/ [Accessed April 16, 2012].

Anon, 2009. Digital Humanities Manifesto 2.0.

Berry, D.M., 2011. The Philosophy of Software: Code and Mediation in the Digital Age, Palgrave Macmillan. Available at: http://www.amazon.com/Philosophy-Software-Code-Mediation-Digital/dp/0230244181.

cpeagler1, 2012. Digital Humanitites. Digital Humanities. Available at: http://lkleincourses.lcc.gatech.edu/dh12/2012/01/23/digital-humanitites/ [Accessed March 16, 2012].

Evans, J. a. & Foster, J.G., 2011. Metaknowledge. Science, 331(6018), pp.721–725.

Gibbs, F., 2011. Critical Discourse in the Digital Humanities. Historyproef. Available at: http://historyproef.org/blog/digital-humanities/critical-discourse-in-the-digital-humanities/?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed:+DigitalHumanitiesNow+(Digital+Humanities+Now).

Liu, A., 2011. Where is Cultural Criticism in the Digital Humanities, Available at: http://liu.english.ucsb.edu/where-is-cultural-criticism-in-the-digital-humanities/.

McCarty, W., 2012. The residue of uniqueness. In Cologne Dialogue on Digital Humanities. Köln. Available at: http://www.cceh.uni-koeln.de/files/McCarty.pdf.

Ramsay, S., 2012. The Hot Thing. Stephen Ramsay. Available at: http://lenz.unl.edu/papers/2012/04/09/hot-thing.html?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed%3A+DigitalHumanitiesNow+%28Digital+Humanities+Now%29 [Accessed April 12, 2012].

Shah, N., 2011. In Search of the Other: Decoding Digital Natives, Available at: http://dmlcentral.net/blog/nishant-shah/search-other-decoding-digital-natives.

Svensson, P., 2010. The Landscape of Digital Humanities. , 4(1). Available at: http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/4/1/000080/000080.html.

Zizek, S., 2010. Zeit der Monster. Le Monde Diplomatique (Deutsch). Available at: http://www.monde-diplomatique.de/pm/2010/11/12.mondeText.artikel,a0048.idx,14 [Accessed April 5, 2012].

 

Reflektion   
3 Kommentare Kommentar schreiben
  • Christof Schöch

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    Vielen Dank für den sehr interessanten Beitrag, der zum Nachdenken über das Feld anregt. Ich bin allerdings etwas weniger pessimistisch als einige der angeführten Autoren, was die Reflektionsfähigkeit der Digital Humanities über sich selbst angeht; mir scheint es im Gegenteil sogar fast ein Merkmal des Feldes zu sein, dass man einen „What are the Digital Humanities“-Artikel schreiben muss, wenn man dazu gehören möchte, was inzwischen sehr viele Akteure getan haben! Ganz zu schweigen von Willard McCarty’s Buch „Humanities Computing“, das die Epistemologie und Agenda des Feldes (oder Archipels) ausführlich beleuchtet. Dass die Debatte natürlich weder erledigt noch abgeschlossen ist, liegt in der Natur der Sache und ist ja ein wünschenswerter Zustand!

  • Celia Krause

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    Vielen Dank für den Artikel. Dies hier ist der Satz, bei dem das Nachdenken für mich einsetzt:
    „Um der Pointe halber diese Beobachtung etwas zu pauschalisieren, ließe sich sagen, dass in den geisteswissenschaftlichen Publikationen in Zusammenhang mit digitalbasierten Medien das diffuse Feld der Digital Humanities bisher primär die Rolle übernahm, die Möglichkeiten dieser Medien für die geisteswissenschaftliche Forschung zu propagieren. Eine Reflexion dieser Medien fand vorwiegend in Bereichen der Medientheorie und der Kulturwissenschaften statt. Für die dortige Forschung waren digitale Medien aber mehr ein Objekt der Forschung denn ein Objekt, mit dem geforscht werden könnte.“

  • no image

    Digital Humanities-Kolloquium

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    […] den Stand der Digital Humanities reflektieren“. DHD-Blog-Eintrag vom 26.04.2012. Online: https://dhd-blog.org/?p=458 (zuletzt abgerufen am […]

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