Reisebericht Dhd2024

1 Veröffentlicht von Kerstin Kaiser am

Dieser Beitrag ist im Rahmen eines Reisekostenstipendiums für die DHd2024 entstanden. Ich möchte mich beim DHd-Verband an dieser Stelle herzlich dafür bedanken, mir die Teilnahme an der Konferenz zu ermöglichen.

Im Gründungsjahr des DHd leakte Snowden und es erscheint Ari Folmanns Film The Congress (2013). Damals, als die Gegenwart noch Science-Fiction war, zeigt Folmann die Erschaffung eines virtuellen Abbilds einer Schauspielerin, wodurch ihre Arbeit obsolet wird. Heute treffen Schauspielgewerkschaften Vereinbarungen über den Einsatz generativer KI-Systeme, um Arbeit zu erhalten. Und was mache ich? Ich verbringe montagmorgens drei Stunden im Wartezimmer einer Kinderarztpraxis, bevor ich pünktlich mit der Bahn aus Wuppertal losstarte. Die Bahnfahrt ist unspektakulär, die Lektüre, umso spannender. Going Zero (2023) von Anthony McCarten. Ein Roman, der die Möglichkeiten des Verbergens vor Überwachungstechnologie verarbeitet.

Passau

Der Spaziergang zum Veranstaltungsort führt durch eine still beschauliche, ordentlich herausgeputzte und sehr saubere Stadt. Kein Grünbelag an den Fassaden. Hier herrscht wohl ein anderes Klima. Kein bisschen Schmutz auf den Gehwegen, alles rein. Allerdings wird in Straßen der Reinigungsklasse IV auch „siebenmal wöchentlich gereinigt […], da die Nichtreinigung an einem Wochentag zu nicht akzeptablen Zuständen führen würde.“[1]

Workshop

Im Workshop Das richtige Tool für die Volltextdigitalisierung geht es zunächst auch um das Aufhübschen — diesmal beim Preprocessing von Textscans. Die vier Vortragenden des Workshops erklären sehr anschaulich die Prinzipien der Texterkennung, der Herstellung von Ground Truth und dem Modell-Training, das manchmal unter Halluzinationen leidet, ähnlich den Figuren in The Congress. Nur ist die magische Verwandlung in digitale Ausgabeformate bei OCR nicht der Einnahme von Psychedelika geschuldet, sondern basiert auf versiertem Software-Engineering, dessen Ergebnisse wir bei der Vorstellung der drei Tools OCR-D, OCR4all, eScriptorium kennenlernen und ausprobieren dürfen.

Keynote

Anschließend verbringe ich meine freie Zeit mit einer zauberhaften Slawistin. Wir besuchen gemeinsam Marco van Leeuwens Keynote Comparative interdisciplinary research in History and Sociology. Van Leeuwen erzählt über seinen Werdegang, der zu Beginn von engen disziplinären Grenzen geprägt ist. Ob diese Erfahrung innerhalb der Digital Humanities wohl verbreitet ist? Er berichtet weiter von seiner Forschung zur Sozialen Mobilität während der Industrialisierung anhand von öffentlichen Registern. Nachhaltig bleibt mir seine Aussage zur Mobilität von Frauen in Erinnerung: Keine Kinder zu haben ist ein bedeutender Faktor. Dabei denke ich an die drei Stunden Stillstand im Wartezimmern der Kinderarztpraxis. Ich frage mich, welchen Einfluss geschmeidige Verwaltungsstrukturen auf das Leben der Menschen haben könnten.

Forschungsplattformen

Am nächsten Morgen treffe ich ein bekanntes Gesicht aus dem MALIS Studium an der TH Köln und anschließend geht es zur Session für Forschungsplattformen. Hier behandeln die Vortragenden vom Cologne Center for eHumanities Erfahrungen mit Citizen-Science-Projekte (stetiges Community-Management nötig) und berichten außerdem über Verständigungsschwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit anderen Fachwissenschaften, die aus unterschiedlichen medientechnologischen Perspektiven und dazugehörigen Logiken (Analog vs. Digital) erwachsen. Für die Beseitigung von Hürden und den leichten Einstieg ins Digitale plädiert Mark Hall mit μEdition – Niedrigschwellige Digitale Editionen. Sein Lösungsansatz: pragmatisch reduzierte Funktionalität der Editionsumgebung mit Markdown als Anfangsformat, anstatt der voraussetzungsreichen Einarbeitung in großangelegte, normiert und standardisierte Infrastrukturen.

Doctoral Consortium III

Nach einer wuseligen Mittagspause mit Mentee-Treffen, voller Mensa und weiteren Geschichten geselle ich mich in das Doctoral Consortium III. Mal sehen, womit sich andere so beschäftigen. Es geht bei Laura Untner zum Beispiel um die Modellierung der literarischen Sappho-Rezeption mit CIDOC CRM. Oder auch, sehr interessant, die religionswissenschaftliche Methodenarbeit von Lina Rodenhausen, die sich mit der automatischen Metaphernverarbeitung und -analyse gegenwärtiger christlichen Subreddits befasst. Die Veröffentlichungen der beiden Arbeiten – eine Datensammlung zur Sappho-Rezeption soll FAIR zur Verfügung stehen – interessieren mich jetzt schon.

Forschungsdaten

Der für mich letzte Tag beginnt mit der Forschungsdaten Session. Der Vortrag zum Projekt HistKI stellt die Verknüpfung von multimodalen Daten in der kunsthistorischen Forschung zu Dresden mithilfe von Annotationen vor und zeigt dessen visuell sehr ansprechende Plattform 4D Browser und dessen Funktionalitäten. Ich fühle mich ein wenig an die Venice Time Machine erinnern, die mich seinerzeit sehr beeindruckt hat (Weiß jemand, ob das Projekt tatsächlich ad acta gelegt wurde?). Anschließen folgt der Vortrag Normdaten Quo Vadis der den aktuellen Stand und die Möglichkeiten der Normdatenerfassung und -korrektur sehr anschaulich darstellt. Ernüchternd ist, dass wohl bei Korrekturanfragen innerhalb des DNB-Katalogs keine Rückmeldung zur Eingabe erfolgt und dass Änderungen durch die GND-Redaktionen erhebliche Wartezeiten bis zur Bearbeitung mit sich bringen.

Philosophie

In der Session zur Philosophie stellen Vertreter der Arbeitsgruppe Philosophie der Digitalität / philosophische Digitalitätsforschung der Deutschen Gesellschaft für Philosophie ihre Arbeit am PhiWiki vor. Es ist ein in Entstehung befindliches semantisches Wiki-Systems, das als digitaler Denk-, Diskurs und Publikationsraum dienen soll. Die Plattform wird Normdaten und fachwissenschaftlich einschlägige Wörterbücher integrieren und soll die Möglichkeit bieten, ein Glossar mit Begriffen zur digitalen Philosophie zu erschaffen. Meiner Einschätzung nach ein hochinteressantes wie zugleich komplexes Thema und Unterfangen. Insbesondere in Zusammenschau mit der potenziellen Ausweitung der Zielgruppe, wie Stefan Heßbrüggen-Walter sie in seinem Beitrag The Future of Philosophy zeichnet, denn er gelangt zu der Schlussfolgerung, dass Digitale Humanisten in gewisser Weise Philosophen sind, insofern sie sich bei der Übersetzung und konzeptionellen Umformung zur digitalen Verarbeitung mit der Klärung von Bedeutung beschäftigen.

Off

Die Rückfahrt mit der Bahn entwickelt sich zu dem vorausgeahnten Spektakel. Ich lasse mich davon nicht beirren und beginne Gadamers Sprache und Verstehen (1970) zu lesen:

Es begegnet allerorten, daß Versuche der Verständigung zwischen den Zonen, den Nationen, den Blöcken, den Generationen daran scheitern, daß eine gemeinsame Sprache zu fehlen scheint und daß die gebrauchten Leitbegriffe wie Reizworte wirken, die die Gegensätze verfestigen und die Spannungen verschärfen, zu deren Behebung man zusammenkommt. Man denke nur an Worte wie »Demokratie« oder »Freiheit«.[2]

Ich höre direkt wieder auf zu lesen. Die Texte des alt gewordenen Herrn werden mich die nächsten Jahre noch begleiten. Mag ich sie? Ich weiß es noch nicht. Und halte ich es zur Verabschiedung aus diesem Text mit den Worten einer Buchhandelskette, die auf ihren Lesezeichen druckt „Welt, bleib wach.“?! Nein, dann rufe ich euch doch lieber zu „Schlaft nicht ein!“ und bleibe gespannt auf die Antworten der kommenden Jahre.


[1] https://www.muw-nachrichten.de/dahoam/passau/aenderung-der-strassenreinigungssatzung-in-der-stadt-passau.

[2] Gadamer, Hans-Georg. Sprache und Verstehen (1970). In: Gadamer-Lesebuch hrsg. von Jean Grondin, S 71-85. Tübingen: Mohr 1997.

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