Podiumsdiskussion „Digitale Geisteswissenschaften als Werkzeug oder Wissenschaft?“ – Ein Veranstaltungsbericht
- Einleitendes
- Die Veranstaltungseröffnung
- Heranführung an die Thematik – die Impulsvorträge
- Die Podiumsdiskussion
- Wrap Up
Einleitendes
Am 23. Juni lud das ‘Zentrum für Informationsmodellierung’ der Universität Graz zu einer Podiumsdiskussion, die sich der Frage widmete, was denn Digitale Geisteswissenschaften überhaupt sind, Werkzeug oder Wissenschaft?
Eine Frage, die keineswegs neu aber dennoch brandaktuell ist, scheiden sich doch nach wie vor an dieser Frage die Geister in teils doch sehr verhärtete Fronten – in „Verfechter:innen“ traditioneller und „Verfechter:innen“ digitaler Geisteswissenschaften. Diskutiert wird die Frage aber nicht nur über die Disziplingrenzen hinweg, denn auch die digitalen Geisteswissenschaften selbst stellen sich der Frage nach dem Kern des eigenen Schaffens selbstreflektierend und selbstkritisch nicht nur in zahlreichen Publikationen zu Selbstverortung, Möglichkeiten und Grenzen, sondern auch während des Ausbildens neuer Wissenschafter:innen des Faches – zumindest kenne ich es aus diversen Lehrveranstaltungen meines Studiums in Graz so.
Diese Frage nach dem Sein eröffnet einem ein breites Diskussionsfeld. So könnte man die DH beispielsweise als reines Methodenaggregat sehen oder als Nebenprodukt des Digitalisierungshypes. Man könnte sie auch als durch die Digitalisierung der Arbeitsplätze bedingte, jedoch noch viel zu wenig genutzte Selbstverständlichkeit betrachten, oder sie gar als langersehnten Push der traditionellen Geisteswissenschaften ins digitale Zeitalter verstehen. Ein breites Spektrum an Verortungsmöglichkeiten also, welches sich auch in der Veranstaltung zeigte, die zusätzlich noch mit Überlegungen fachdisziplinärer, aber auch konzeptioneller sowie institutioneller Natur gespickt war.
Die Veranstaltungseröffnung
Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einleitenden Worten von Univ.-Prof. Dr. Michael Walter (Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz und Musikwissenschafter) und Univ.-Prof. Dr. Georg Vogeler (Leiter des Zentrums für Informationsmodellierung an der Universität Graz, Historiker und Digital Humanist). In Retrospektive ließ sich in diesen 10 Minuten bereits erkennen, dass in dieser Podiumsdiskussion nicht nur verschiedene Meinungen zu den und aus den Digitalen Geisteswissenschaften aufeinandertreffen, sondern auch die Ausgangspunkte, aus denen diese Diskussion geführt wurde, unterschiedliche waren: geisteswissenschaftliche trifft auf universitätspolitische Position, Methodenfrage trifft auf Ressourcenfrage, Forschung trifft auf Finanzierung. Denn während Vogeler von der Doppelrolle als Digital Humanist spricht, vom zeitgleichen Techniker- und Wissenschafter-Sein, spricht Walter von seinen Verortungsschwierigkeiten des Faches im Allgemeinen und der Frage nach dem “Was ist das überhaupt?”, mit der er in seiner Rolle als Dekan konfrontiert wird. In den Eröffnungsreden noch subtil vorhanden, werden diese beiden Positionen – Wissenschaft vs. Universitätspolitik – die Veranstaltung und insbesondere die Podiumsdiskussion formen.
Bevor die Moderatorin der Veranstaltung Prof. Dr. Rinofner-Kreidl (Vizedekanin, Phänomenologin, Ethikerin und Philosophin an der Universität Graz), jedoch den Ring zur Diskussion freigab, wurde das Publikum noch mit zwei Impulsvorträgen an die Thematik herangeführt. Selbst diese hätten nicht unterschiedlicher sein können. Man sieht – eine Frage so kurz, scheinbar so einfach – eröffnet doch einige unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten.
Heranführung an die Thematik – die Impulsvorträge
So zeigte Prof. em. Dr. Charlotte Schubert (Althistorikern und Medizinhistorikerin an der Universität Leipzig) im Zuge ihres Impulsvortrags mit dem Titel “Einordnung der Digital Humanities in den geisteswissenschaftlichen Fächerkanon: Herausforderung und Chance” anhand der Analyse eines Textkorpus zum Hippokratischen Eid auf, wie nützlich die Methoden und Tools der Digitalen Geisteswissenschaften sein können, um alte Annahmen zu bestätigen oder zu falsifizieren, wodurch sich neue Forschungsfragen eröffnen (können). Dennoch sieht sie die Zukunft der digitalen Geisteswissenschaften eher in der Integration der Methoden und Ansätze in die einzelnen Fächer. Auf diesem Wege könnten sowohl die Methoden der einzelnen Fächer, als auch die Fächer selbst um weitere Perspektiven und Ansätze erweitert werden.
Auf diesen methodenfokussierten Impulsvortrag folgte der eher philosophisch-theoretische, an manchen Stellen bewusst provokant formulierte Impulsvortrag von Prof. Evelyn Gius (Digitale Philologin und Literaturwissenschafterin an der TU Darmstadt und Vorstand des Dhd Verbandes) mit dem Titel “Digitale Geisteswissenschaft als Werkzeug oder Wissenschaft?”. In diesem sagte sie zunächst der Fragestellung selbst den Kampf an, die sich – laut Gius – auch ganz einfach in “Ist das Wissenschaft, oder kann das weg?” paraphrasieren lasse. Ein besonderer Störfaktor sei aber insbesondere das Wort “oder”. Einer wissenschaftlichen Disziplin bedarf es nämlich beides – Wissenschaft und Werkzeug und DH sind, laut Gius, eben beides, wie jede andere Disziplin auch. Nach diesem, wie sie es selbst nannte, etwas polemischen Einstieg, thematisierte Gius die Frage “Was sind Digitale Geisteswissenschaften überhaupt?” und argumentierte, dass die Disziplin schwer zu definieren sei, sich grundsätzlich jedoch drei Tätigkeitsfelder bestimmen lassen. So gehört es zu den DH
- auf vorher nicht möglich gewesenen, nämlich digitalen Wegen neue Fragen zu stellen bzw. bekannte Fragen neu zu beantworten,
- die digitalen Methoden aus geisteswissenschaftlicher Sicht zu evaluieren und zu reflektieren, sowie
- alte akademische Strukturen aufzubrechen und neue zu schaffen, insbesondere in den Bereichen Open Data, Open Science und Open Access.
Daraus resümierte Gius, dass die Digitalen Geisteswissenschaften durchaus eine Wissenschaft sind, wenn auch eine stark methodenorientierte, und das die Zukunft der Disziplin gemeinsam mit den traditionellen geisteswissenschaftlichen Fächern ausgelotet werden müsse.
Diese beiden Impulsvorträge formten sozusagen die beiden Seiten des “Diskussionsringes”, in denen sich die Diskutant:innen in der darauffolgenden Podiumsdiskussion gegenüberstehen sollten – Digitale Geisteswissenschaften als Methodenaggregat, dessen Zukunft in der Integration in die einzelnen Disziplinen liegt, auf der einen Seite und Digitale Geisteswissenschaften als Wissenschaft, die über die Maßen stark methodenbasiert ist, auf der anderen Seite. Sollten, wohlgemerkt… Denn wie bereits erwähnt, offenbarte sich in der Diskussion eine institutionelle Komponente, die zwar im universitären Kontext eine durchaus wichtige ist, im Rahmen der Diskussion aber zur Folge hatte, dass sich die Diskutant:innen nicht auf selber Ebene begegnen konnten. Aber ich sollte nichts vorwegnehmen.
Die Podiumsdiskussion
Neben den beiden Referentinnen der Impulsvorträge nahmen an der Diskussion noch Dr. Luise Borek (Mediävistin und Germanistische Computerphilologin an der TU Darmstadt, im Sommer 2022 Vertretungsprofessorin in Graz), Dr. Johannes Kepper (Musikwissenschafter am musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn) und Prof. Dr. Walter – wie er selbst angab in seiner Rolle als Dekan – teil. Diese drei hatten zu Beginn die Möglichkeit in fünfminütigen Eröffnungsstatements ihre Stellung darzulegen.
So stellte Borek klar, dass sie – wie Gius -, die DH sowohl als Werkzeug als auch als Wissenschaft bzw. als Kombination aus beidem versteht, in denen außerdem zwischen traditionellen und digitalen Methoden vermittelt und letztere kritisch hinterfragt und evaluiert werden. Sie hob zudem das große Potential der digitalen Geisteswissenschaften hervor, die Zukunft der Geisteswissenschaften aktiv mitgestalten zu können. Auch Kepper wies auf die Notwendigkeit und Wichtigkeit der Vermittler:innenrolle hin, die den digitalen Geisteswissenschaften inhärent ist. Insbesondere in einer Zeit, in der Forschungsanträge nur zu gern mit dem Schlagwort “Digitalisierung” gewürzt werden, ohne dass groß ein Gedanke an die konkrete Umsetzung verschwendet wird. Digitalisierung ist momentan eben der – entschuldigen Sie die Wortwahl – heiße Scheiß. Sie kann diesem Hype aber nur gerecht werden, wenn sie kompetent umgesetzt wird. Borek und Kepper lassen sich also, wie Gius, klar auf der „Ringseite“ Digitale Geisteswissenschaften sind eine Wissenschaft, sind ein Fach verorten.
Dekan Walter, der als letzter sein Eröffnungsstatement abgab, sah dies nicht so. Die Geisteswissenschaften sollten sich generell entsprechend der neuen technischen Möglichkeiten weiterentwickeln. Seiner Meinung nach können die Digitalen Geisteswissenschaften kein eigenes Fach sein, wenn ihre Methoden bzw. technische und digitale Kompetenzen im Allgemeinen in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen sowieso mittlerweile eine Rolle spielen müssten. Sein Standpunkt ist also mit jenem von Schubert zu vergleichen. Es braucht kein eigenes, losgelöstes ‘Fach’, sondern die Methoden müssen in die geisteswissenschaftlichen Fächer integriert werden.
Grundsätzlich wären an dieser Stelle nun die Fronten abgesteckt, die Sichtweisen klar – Ring frei. Doch diese Stelle kennzeichnete auch den Moment, indem die Diskussion in eine strukturell-institutionelle Richtung zu laufen begann. Und auch wenn zwischenzeitlich spannende Ansätze aufkeimten, blieb die Frage nach Ressourcenverteilung, der Fokus auf institutionelle Fragen und Probleme bestehen. Doch bevor ich auf diesen Fokuswechsel eingehe, möchte ich zuerst ein paar der spannenden Ansätze hervorheben.
Einer davon wurde schon während des Impulsvortrages kurz angesprochen, aber von Schubert im Rahmen der Diskussion weiter forciert. Laut Schubert, müssen die Digitalen Geisteswissenschaften in die Fächer hinein, insbesondere mit Fokus auf die Fragestellungen des jeweiligen Faches. Dann stelle sich auch eine Akzeptanz in den Geisteswissenschaften gegenüber diesen neuen Herangehensweisen ein. Die Sorgen, die DH würden traditionelles geisteswissenschaftliches Forschen obsolet machen, würden sich so als unbegründet herausstellen. Man solle sich auf die Komplementarität konzentrieren, statt die Differenzen hervorzuheben, so Schubert. Denn wenn die digitalen Geisteswissenschaften bzw. ihre Methoden den Weg in die Fächer finden würden, würden diese von den neuen Ansätzen und Methoden profitieren und dadurch erweitert werden. Das Einrichten zentraler Institute für digitale Geisteswissenschaften sieht sie dabei eher kontraproduktiv.
Auch Kepper befürwortete die Meinung, dass die digitalen Geisteswissenschaften in die Fächer gehören, warnte jedoch vor drohender Vereinzelung, sollte es nicht zusätzlich eine zentrale Anlaufstelle geben. Denn würde eine solche Anlaufstelle, die sich mit Digitalen Geisteswissenschaften beschäftigt und dabei Standards festlegt bzw. vermittelt, die eine Übertragbarkeit sowohl von Daten als auch Methoden erzeugen, fehlen, laufe man Gefahr, viel Redundanz zu erzeugen.
Gius war ebenso der Ansicht, dass es grundsätzlich beides braucht. Denn fachwissenschaftliche Fragen zu stellen, zu verstehen und zu beurteilen, lasse sich ebenso wenig durch einen schnellen Blick in ein Einführungsbuch erlernen, wie digitale Methoden, die auf diese Fragestellungen angewendet werden sollen. Es müssen beide Seiten gefördert werden. Denn in den Digitalen Geisteswissenschaften gibt es sowohl Fokussetzungen, die sich gezielt geisteswissenschaftlichen Disziplinen zuordnen lassen, als auch jene, die eher technischer Natur sind und über die Disziplingrenzen hinweg diskutiert und erörtert werden müssen. Auch wenn sich momentan schon erste Tendenzen abzeichnen, dass sich die digitalen Geisteswissenschaften immer mehr in die einzelnen Fächer hineinentwickeln, sieht sie diese Entwicklung nur zum Teil bereits geschehen.
Man erkennt im Rahmen der Diskussion also durchaus erste Annäherungsversuche und eigentlich wurde schon eine Art Basis für das gemeinsames Ausloten der Zukunft der digitalen Geisteswissenschaften gelegt. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass die Fragen der Ressourcenverteilung und universitätspolitische Fragen die Diskussion zunehmend überschatteten. Die Diskussion über die Zukunft, das Sein, den Kern der DH und ihre Rolle im geisteswissenschaftlichen Fächerkanon, in der sich alle Beteiligten auf selber Ebene begegneten, wandelte sich immer mehr von einer Diskussion über Wissenschaft vs. Methode zu einer Diskussion zwischen ressourcenverteilender und ressourcenerhaltender Partei. Schade eigentlich… Schließlich kam man zu folgendem Konsens: die digitalen Geisteswissenschaften – sei es als Methodenaggregat, sei es als eigene Wissenschaft – haben viel Potential für die Gestaltung der Zukunft der Geisteswissenschaften.
Dieser Wandel in der Ausrichtung wurde auch von Moderatorin Rinofner-Kreidl erkannt – die im Übrigen in dieser Rolle fantastisch war, da sie die Quintessenz der einzelnen Statements herauszufiltern und situationsadäquat neue Fragen zu stellen vermochte. Aber selbst ihr Hinweis, dass es nur dann möglich ist, mögliche Kränkungen zu vermeiden und eine gewinnbringende Diskussion jenseits von Provokationen zu führen, wenn man methodologische, konzeptionelle und institutionelle Fragen getrennt betrachtet, vermochte die Diskussion nicht mehr wirklich zurückzuleiten. Am Ende war man sich einig, dass man sich eben nicht so ganz einig ist, wo es mit den Digitalen Geisteswissenschaften hingehen sollte und wie man sie im geisteswissenschaftlichen Fächerkanon verorten kann.
Es käme aber auch einem Wunder gleich, könnte man eine so vielschichtige Frage, innerhalb von zwei schweißgebadeten Stunden endlich lösen. Worauf sich aber doch alle mehr oder weniger verständigen konnten, war, dass die Diskussion weitergeführt werden muss und zwar in einer Form die auf keiner Seite Kränkungen verursacht.
Wrap Up
Zusammenfassend eine spannende Podiumsdiskussion, die an manchen Stellen konstruktiv, an manchen Stellen fast schon zu polemisch wurde. In der sich einer der Teilnehmer:innen einen Kampf mit härteren Bandagen wünschte und auch an manchen Stellen zum Angriff überging, während die anderen vermeintlich “zu soft” ihre Standpunkte klarmachten. Beendet scheint diese Diskussion aber noch lange nicht, die Tür ist aber zumindest einen Spalt weiter geöffnet.
Und wenn manch ein:e Leser:in in diesem Tagungsbericht eine Spur zu viel Subjektivität, vielleicht auch einen Anflug an Kränkung vermutet, so liegt sie/er nicht ganz falsch. Es ist schwer objektiv zu bleiben, wenn der eigene Fachbereich angegriffen wird, und das nicht auf fachlicher Ebene – hier ist eine hitzige Diskussion ebenso förderlich wie auch wichtig – sondern auf institutionell-ökonomischer Ebene, auf der es nur im Schein um ein Verständnis, um das Ausloten der Disziplin und ihren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen geht, sondern primär um die Frage nach dem messbaren monetären Wert, um Rentabilität, um Ressourcen und deren Verteilung.
Verstehen Sie mich nicht falsch… Alles lässt sich auf die Ressourcenfrage reduzieren, doch hätte diese Podiumsdiskussion meiner Meinung nach mehr Früchte getragen, wenn sich alle in derselben Rolle begegnet wären – als Geisteswissenschafter:innen. Die Tür zwischen traditionellen und digitalen Geisteswissenschaften hätte sich eine Spur weiter öffnen können und statt des Exerzierens einer institutionellen Machtfrage (bei der in den meisten Fällen sowieso die nächsthöhere universitäre Instanz das letzte Wort hat), statt eines “Kampfes mit harten Bandagen” gegen “zu softe” Gegner:innen, wäre es vielleicht auch möglich gewesen, weitere Wege einer Kooperation zwischen den “traditionellen” und digitalen Geisteswissenschaften auszuloten – die einander momentan einfach nur misszuverstehen scheinen. Denn – um mit den Worten Charlotte Schuberts abzuschließen – Kooperation gewinnt langfristig immer.
Addendum
Natürlich können Sie sich auch gern selbst ein Bild der Veranstaltung machen – ich bitte Sie sogar darum, denn ich bin mir meiner Befangenheit wohl bewusst. Den Videomitschnitt finden Sie hier …
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