Irrungen, Wirrungen – Die Wiederentdeckung eines verschollenen Briefs von Wilhelm Grimm an Johann Heinrich Christian Bang (Brief Nr. 54) und wie er zu seiner Edition kam.
Aus der digitalen Edition des Briefnetzwerks der Konstellation um die Brüder Grimm
von Rotraut Fischer, TU Darmstadt
Der Literaturhistoriker und Gymnasialprofessor Reinhold Steig, von Herman Grimm als Verwalter des schriftlichen Nachlasses der Brüder Grimm eingesetzt, veröffentlicht in seiner Ausgabe über Goethe und die Brüder Grimm aus dem Jahre 1892[1] einen Auszug aus einem Brief Wilhelm Grimms an Johann Heinrich Christian Bang (Bild) vom 20.12.1824. Darin berichtet Grimm dem Goßfeldener Freund und Pfarrer von einem Besuch Bettina von Arnims in Kassel, der für die Grimms offenbar der Höhepunkt der Sommergeselligkeit gewesen war. Denn die lebhafte Bettine stand nach Grimms Bericht eines Morgens unerwartet im Zimmer und ergötzte alle mit ihren Erzählungen, z.B. von Goethe, von dem sie eben kam, und sie stellte ihren Entwurf eines Goethe-Denkmals vor, der die Zustimmung der Grimms fand. Gern hätte man mehr erfahren, doch Steig publizierte den Brief nur in den Goethe betreffenden Passagen, eingefügt in seinen eigenen Text. Das Original des Briefes schien indes verschollen. Gleichwohl musste es Steig vorgelegen haben. Was ist an diesem Vorgang bemerkenswert?
Zunächst haben Briefe ein Eigenleben. Wurden sie einmal abgeschickt, sind sie nur noch schwer zu kontrollieren. Sie tragen üblicherweise zwar die Adresse eines Empfängers oder einer Empfängerin, doch ist ihre Ankunft damit keineswegs gesichert. Erst recht gilt dieser Kontrollverlust für das Nachleben des Briefes, wenn er also tatsächlich empfangen, erbrochen und gelesen wurde, also seinen ‚Auftritt‘ hatte; dann wird er vielleicht verwahrt, auch dies eine eigene Geschichte über Kisten und Kästchen und private, oft geheime Orte, und schließlich, wenn Adressat bzw. Adressatin oder Schreiber bzw. Schreiberin von hinreichendem Interesse sind, meist nach dem Tod des Empfängers bzw. der Empfängerin einem Archiv übereignet. Nun kommt der Editor bzw. die Editorin ins Spiel, der bzw. die den zum Text gewordenen Brief – denn dieser ist nun unabhängig von seinem Charakter als einmaliges Ereignis – in eine Reihe anderer Brief-Texte aufnimmt und so quasi in einen Erzählfluss einbettet, der sich aus der Form der Lektüre ergibt: die Briefe werden nacheinander gelesen, ohne Rücksicht auf ihre ursprüngliche zeitliche Nähe oder den Ereignischarakter, der ihnen einst anhaftete. Dies gilt in besonderer Weise für den Typus von Steigs Publikationsverfahren, das nicht Briefe oder einen Briefwechsel dokumentierend aneinanderreiht, sondern die Briefe selbst beschneidet und sie der Narration des Bearbeiters, in diesem Fall über Goethe und die Grimms, regelrecht einverleibt. So werden sie Teil einer fremden ‚Erzählung‘. Der Brieftext wird aus seinem alten Kontext befreit. Doch geht er zugleich in einem neuen auf, dem Text eines bzw. einer Dritten, eines anderen Schreibers bzw. einer anderen Schreiberin, in den er eingefügt wird. Auch andere Autoren bzw. Autorinnen der Zeit bedienten sich dieser Mischform aus (Teil-)Edition und Erzählung, so etwa Adolf Stoll und La Mara. Der Brief hört dabei nicht nur auf, ein eigenständiger Brief-Text zu sein, er wird geradezu Teil eines anderen Textes: Der Brief wird zum Zitat. Unseren heutigen Maßstäben genügt freilich eine solche zerstückelnde und vereinnahmende Editionspraxis nicht mehr. Das Editionsziel heute ist größtmögliche Authentizität.
Beim Bearbeiten des Briefwechsels der Brüder Grimm mit Bang im Rahmen der Vorbereitung seiner digitalen Edition tauchte eines Tages eine Signatur auf, die eigentlich nach Kassel in die Murhardsche Bibliothek gehörte. Sie schien sich auf ein Briefmanuskript zu beziehen, das in den Sammelbereich Hassenpflug gehörte, des Schwagers der Brüder Grimm, jedoch das Datum des von Steig zitierten Briefes trug. Auf Nachfrage wurde mitgeteilt, dass das Original des Briefes nicht in Kassel sei. Durch Nachforschungen auch in der Staatsbibliothek Berlin und der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau wurde ich schließlich im Hessischen Staatsarchiv Marburg fündig (340 Grimm Br 2577). Der Brief war sozusagen seiner eigenen Dokumentation entschlüpft und unter falschem Namen wiederaufgetaucht.
Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Best. 340 Grimm Brief 2577, S. 1. Ab Z. 12 die Passage zu Kleist.
Und was für ein Brief! Neben den unter den Freunden zirkulierenden Buchwünschen und ‑kommentaren nimmt Wilhelm Grimm ausführlich Stellung zu Heinrich von Kleist. Einen „kühnen und ruhigen, aber reichhaltigen Geist“ nennt er ihn, denn man müsse sich an ihn gewöhnen, „wie etwa an eine Adlernase oder ungewöhnlich große Augen in dem Gesicht eines neuen Bekannten“. Auch seien „ausgezeichnet“ die „Reife und Sicherheit mit welcher er das Kühnste vorstellt und handhabt“. Das zweite interessante Thema des Briefes ist die Französische Revolution und Grimms durchaus eigenwillige, wenn auch in der Zeit häufiger anzutreffende Stellungnahme. Der Schreiber betont, dass zwar die Verhältnisse im Ancien régime „miserabel“ und „schändlich“ gewesen seien, doch habe „auf diesem Wege nichts beßer werden“ können. Und weiter: „Ich will damit nicht ableugnen, daß das Factum selbst, wie ein verheerender Sturm die Luft gereinigt hat und Frankreich gegenwärtig beßer u. tüchtiger ist, als vorher, aber das ist eine Wohlthat Gottes, der aus dem Verderben das Heil geschaelt hat, das die Menschen nicht als ihrer Hände Werk rühmen dürfen […]“.
In der kurz vor dem Abschluss stehenden Hybrid-Edition des Briefwechsels wird der Brief nunmehr in seiner vollen Länge reproduziert werden. Er wird für sich stehen und doch in einer Reihe mit den anderen Briefen der Korrespondenz. Alle sind sie aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und zu Brief-Texten geworden. Im Gegensatz zum Editionstypus, den u.a. Steig vertritt, entsteht eine andere Erzählung, und zwar aus der Reihung der Briefe selbst. Wie aber ist es um deren Authentizität bestellt?
Die digitale Edition schafft eine Repräsentation des Briefes als Artefakt, das Echtheit simuliert.[2] In der digitalen Repräsentation des Brief-Objekts wird dieses Bild und Text zugleich. Durch die Beigabe von Digitalisaten und die Schaffung von digitalen Infrastrukturen kann das, was tradierbar ist am Brief, rekonstruiert werden. Dadurch wird ‚Echtheit’ vorgetäuscht und zugleich überboten. Denn anders als im ‚Original‘ können durch die Digitalisierung und die damit verbundenen Werkzeuge, Infrastrukturen und generierbaren Umgebungen schon rein technisch durch wechselnde Einstellungen etwa Bilder bearbeitet, Schriftzüge besser entziffert bzw. gedeutet und so Textverluste reduziert und Kontexte rekonstruiert werden. Digitale Repräsentationen ermöglichen darüber hinaus eine multiperspektivische Rezeption und Annotation sowie eine kollaborative Verknüpfung und Bearbeitung.[3] Durch die dabei entstehenden neuen Kohärenzbeziehungen, die wiederum Gegenstand von Analysen sein können, werden neue Einsichten möglich und neue ‚Ansichten‘ generiert. Auch als dynamische Ressourcen abgeleiteten, höheren Grades und damit als digitale Surrogate besitzen die ‚Objekte‘ Eigenschaften; der Entkörperung stehen Verfügbarkeit und Manipulierbarkeit als neue Qualitäten gegenüber.[4]
Die Edition des Briefwechsels der Brüder Grimm mit Pfarrer Bang ist zugleich Teil eines mehrere Briefeditionen umfassenden Projekts. In einer Folge von Einzeleditionen, die alle miteinander vernetzt sind, entsteht ein Briefnetzwerk der Konstellation um die Brüder Grimm, das wiederum anschlussfähig sein kann für andere Editionsprojekte von Briefen der Romantik. Das Projekt ist an der TU Darmstadt angesiedelt und wird getragen von einer Kooperation zwischen der Abteilung Digital Philology des Instituts für Sprach- und Literaturwissenschaft, der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt sowie der Brüder Grimm-Gesellschaft Kassel (s. auch Mail: grimm.museum@gmail.com).
[1] Reinhold Steig: Goethe und die Brüder Grimm. Berlin: Wilhelm Hertz, 1892.
[2] Für Inga Hanna Ralle: Maschinenlesbar-menschenlesbar. Über die grundlegende Ausrichtung der Edition. editio 30 (2016), S. 152, ist die traditionelle Edition ein „editorischer Essay, ein temporäres Statement, ein eingefrorener Zustand“. Für Wilhelm G. Jacobs: Materie, Materialität, Geist. In: editio 23 (2009), S.18f, ist jede Edition Übersetzung, Transformation, hermeneutische Leistung, sie transferiert Vergangenes in die jeweilige Gegenwart.
[3] Michael Bender: Forschungsumgebungen in den Digital Humanities. Nutzerbedarf – Wissenstransfer – Textualität. Berlin/Boston: De Gruyter, 2016, S. 53.
[4] Siehe dazu: Michael Bender, Thomas Kollatz, Andrea Rapp: Objekte im digitalen Diskurs. Digitale Erschließung von Objekten als Erkenntnisprozess. In: Objekte im digitalen Diskurs – epistemologische Zugänge zu Objekten durch Digitalisierung und diskursive Einbindung in virtuelle Forschungsumgebungen und ‑infrastrukturen. In: Hilgert, Markus; Hofmann, Kerstin P.; Simon, Henrike (Hrsg.): Objektepistemologien. Zur Vermessung eines transdisziplinären Forschungsraums. Berlin Studies of the Ancient World 59. Berlin: Edition Topoi. S. 107-132; edition-topoi.org/articles/details/1444.
Kommentar schreiben