CfP: Ästhetisches Aushandeln. Normen und Praktiken in der Vormoderne

0 Veröffentlicht von Melina Schmidt am

Internationale Tagung (SFB 1391 „Andere Ästhetik“)


Ästhetisches Aushandeln. Normen und Praktiken in der Vormoderne


Tübingen, 11. – 13. November 2021


Der Tübinger Sonderforschungsbereich 1391 „Andere Ästhetik“ untersucht ästhetische Phänomene der Vormoderne. Dabei wird kein emphatisches Verständnis von Kunst im Sinne der Autonomieästhetik vorausgesetzt; vielmehr wird davon ausgegangen, dass vormoderne Artefakte in einem dynamischen Spannungsfeld von Autologie und Heterologie zu verorten sind. Die autologische Dimension meint die technisch-artistischen Eigenlogiken der Artefakte, ihr oft implizites Formwissen oder ihre gestalterischen Traditionen, während in heterologischer Dimension die funktionale Einbindung von Artefakten in pragmatisch-historische Alltags- oder Diskurslogiken oder in soziale Praktiken in den Blick tritt. In den spannungsreichen Aushandlungsprozessen zwischen beiden Dimensionen wird nach Koordinaten eines vormodernen ästhetischen Selbstverständnisses gesucht. Als solche Koordinaten, denen über einen längeren Zeitraum hinweg maßgebliche Ausstrahlungskraft zukam, haben die Querschnittsbereiche des Sonderforschungsbereichs verschiedene Leitaspekte – meist in Begriffspaaren angeordnet – identifiziert, von denen sie sich besondere Aufschlusskraft erhoffen. Die Tagung soll den interdisziplinären Dialog des Querschnittsbereichs „Norm und Diversität“ fortführen und ihn in einem bewusst breiten Fächerspektrum wie den Literatur-, Sprach-, Bild- und Geschichtswissenschaften, der Soziologie, Musikwissenschaft, Theologie, Philosophie sowie den Digital Humanities vertiefen.


Als richtungsweisender Ansatz wird dabei gewählt, dass Normen im Diskussionskontext der Tagung nicht nur auf die technisch-artistische Eigenlogik bezogen, sondern in ihrem dynamischen Austausch mit der pragmatisch-historischen Alltagslogik, der sozialen Funktion von Akten und Artefakten analysiert werden sollen. Zentral ist damit weniger das in der Forschung vielfach bearbeitete Phänomen von Norm und Abweichung, bezogen lediglich auf Artefakte. Vielmehr geht es darum, die dynamische Situation eines ästhetischen Aushandelns und eines Aushandelns des Ästhetischen zugleich in den Blick zu rücken: Zwar zielt jede Formulierung einer Norm auf Allgemeingültigkeit, zugleich existiert aber einerseits eine Pluralität der Normen, die sich gegenüberstehen, andererseits wird der Geltungsanspruch von Normen durch eine vielfältige Praxis reflektiert und immer wieder neu zur Diskussion gestellt. Damit möchte die Tagung dem noch immer wirkungsmächtigen Forschungsnarrativ begegnen, das vormoderne Artefakte in normativen Vorstellungen gegründet sieht, ohne dabei den Konterpart der Diversität ausreichend in Rechnung zu stellen.
Aus den Vorüberlegungen zur Tagung ergeben sich vier Fragenbereiche bzw. Beobachtungslinien, welche als Anregung für Beitragsvorschläge dienen können:


1. Implizite und explizite Normen

Zentral ist in diesem ersten Bereich die Frage, ob und wie sich aus dem Spannungsfeld von Autologischem und Heterologischem Normen entwickeln können. Wo es in der Vormoderne ausformulierte Normen gibt, wie explizit diese sind und wie man implizit bleibende Normen erkennt, ist ein zentrales, gar klassisches Feld der Vormoderne-Forschung. Dieses Feld aus der Perspektive zu begehen, dass Normenentstehungen komplexe Aushandlungsprozesse zwischen autologischer und heterologischer Dimension darstellen, verspricht neue Erkenntnisse.
Mögliche Fragestellungen: Wie hängen explizite mit impliziten Normen zusammen? Was bedeutet es, wenn die Formulierung ästhetischer Normen in ästhetischer Gestalt erfolgt? Lösen die Artefakte die Normen ein, die sie selbst vertreten? Welche Wege führen von Deskription und Präskription zur Kanonbildung? Wie lassen sich aus Artefakten die Normen ableiten, die ihnen zugrunde liegen, und zwar auch unter Verwendung quantitativer oder formaler Verfahren? Warum entsteht ästhetischer Genuss aus der Normerfüllung? Wie ergibt sich gerade aus dem Normbruch ein Reflexionsraum ästhetischer Gestaltung? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Norm und Praxis, wie werden unter heterologischer Perspektive Normen umgesetzt?


2. Dynamiken von Norm und Diversität


In einem weiteren Beobachtungsbereich rücken die Prozesse selbst in den Vordergrund und die damit verbundene zentrale Frage, wie sich die Dynamiken von Norm und Diversität oder Pluralität ausagieren bzw. wie sie als ,Spielregeln‘ von Normwandel beschreibbar werden. Der Begriff der Diversität bezieht sich dabei auf konkrete Manifestationen in ästhetischen Akten und Artefakten, aber ebenso in politisch-gesellschaftlichen Handlungen und Praktiken. Diversität zeigt sich somit in ganz unterschiedlichen Anwendungsbereichen: in der sprachlichen Praxis, in sprachtheoretischen Ausführungen, poetischen wie bildkünstlerischen Artefakten, aber auch in politisch-gesellschaftlichen und ökonomischen Praktiken.
Mögliche Fragestellungen: Wie kann aus einzelnen Manifestationen, die abseits einer präskriptiv aufgefassten Norm oder auch gezielt gegen diese entstehen, eine Latenz der Normbildung resultieren? Kann sich aus dieser über Wiederholung und Reflexion ein neuer Normalfall etablieren und sich in der Konsequenz eine explizite, zunächst einmal deskriptiv aufgefasste Norm ergeben? Oder aber: Ist die Dynamik von Norm und Diversität in der Regel mit einer zyklischen Bewegung verbunden? Beginnt diese etwa bei der Kritik an Abweichungen von der selegierten Norm, des als ästhetischer Maßstab geltenden Ideals, weist dann ein wachsendes Interesse für die Diversität auf (z.B. für Anwendungsvarianten), führt schließlich zu Toleranz gegenüber dem Neuen (oft gerade als Instrument der Emanzipation von einer Norm) und in einem weiteren Schritt zu dessen Anerkennung?


3. Ästhetische Norm(en) in der sozialen Praxis


Grundlegend für die dritte Beobachtungslinie ist die Frage nach dem Wechselbezug von Normen auf autologischer und heterologischer Seite und nach ihrer Einbindung in eine soziale und politische Praxis. Normen haben eine gemeinschafts- und traditionsbildende Funktion, sind Ergebnis einer sozialen Verständigungsleistung und können so Zugehörigkeit vermitteln, auch wenn oder gerade weil sie häufig mit Ausschluss, Negation und Ablehnung operieren. In ihrer identitätsstiftenden Funktion wirken Normen etwa in der Sprache, der Literatur, der Musik oder der bildenden Kunst, wobei hier Schnittpunkte oder ähnliche Funktionsweisen beobachtet werden können. Normen sind zunächst einmal durch ihre Festigkeit charakterisiert, allerdings werden sie durch Manifestationen in der konkreten ästhetischen, aber auch politischen und gesellschaftlichen Praxis immer wieder neu reflektiert und auch transformiert.
Mögliche Fragestellungen: Wie wirken sich politische und gesellschaftliche Normen auf Darstellungskonventionen aus, und wie beeinflussen bzw. begründen diese ästhetische Normen? Wie werden Normen bei sozialen und politischen Umstrukturierungen disponibel? Wie wirken sich Phänomene der Reproduktion, Retextualisierung oder Remedialisierung hierbei aus? Wie explizit oder implizit wird auf Normen in den Akten und Artefakten referiert? Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen lokal begrenzt gültiger Norm und universaler Norm? Welche Szenarien gibt es, in denen Entwürfe aus den spezifischen Bedingungen einer ästhetischen Praxis ohne Bezug auf eine feste Norm entstehen, dann aber selbst normbildend werden?


4. Methodik und Modellierung von Norm und Diversität


Ein vierter Fragenbereich beschäftigt sich mit methodischen Fragen, die sich insbesondere, aber nicht nur im Feld der Digital Humanities stellen. Auch quantitativ und formal können Diversität und Abweichung nur durch das (Voraus-)Setzen einer Norm sichtbar gemacht werden. Dies hat Auswirkungen auf die Modellierungspraxis bei digitalen Sammlungen, da Abweichungen nur dann (in einem Modell der Digital Humanities ≈ in einer Norm) darstellbar sind, wenn ihre Möglichkeit bereits beim Erstellen des Modells berücksichtigt wurde.
Mögliche Fragestellungen: Welche Auswirkungen hat das oben skizzierte Spannungsverhältnis aus Norm und Diversität auf formale Modellierungen ästhetischer Artefakte etwa bei Editions- oder Archivierungsprojekten? Welche best practices lassen sich formulieren, um Modelle einerseits flexibel genug zu halten für (koexistierende oder womöglich erst in Zukunft auftretende) Diversität, und um sie andererseits nicht durch zu große Flexibilität unüberschaubar oder in Anwendungen der Digital Humanities unwartbar zu machen? Können nicht-triviale Modelle formal oder automatisch aus (Sammlungen von) Artefakten abgeleitet werden? Wie lässt sich eine Trennlinie zwischen Normabweichung und Normbruch methodisch gesichert festmachen? Wie kann eine solche ermittelt und validiert werden?


Vorschläge für Vorträge oder alternative Präsentationsformen (Diskussionsrunden, Postersessions usw.) werden mit aussagekräftigem Exposé (insgesamt max. 300 Wörter, auf Deutsch oder Englisch) und einem Kurz-CV in einer PDF-Datei bis zum 31.3.2021 erbeten an: sarah.dessi@uni-tuebingen.de und sandra.linden@uni-tuebingen.de (bitte immer an beide Adressen).


Die Beiträge werden in einem Tagungsband publiziert. Die Tagung wird, falls es die Entwicklung der Corona-Pandemie zulässt, als Präsenzveranstaltung mit entsprechendem Hygienekonzept durchgeführt, aber es sind auch hybride Lösungen möglich. Das Tagungsteam bemüht sich, in diesem Punkt besonders flexibel auf die Wünsche und Bedürfnisse der Tagungsteilnehmenden zu reagieren.

Weitere Informationen finden Sie hier: https://uni-tuebingen.de/forschung/forschungsschwerpunkte/sonderforschungsbereiche/sfb-andere-aesthetik/veranstaltungen/tagungen/

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