Recap: DHd-Tagung 2025 in Bielefeld – Auf dem Weg zur digital „entfesselten“ Literaturgeschichte?

0 Veröffentlicht von Pierre-Michel Weiße am

In der ersten Märzwoche 2025 wurde in Bielefeld unter dem Motto „Under Construction“ die 11. Tagung des Fachverbandes „Digital Humanities im deutschsprachigen Raum“ (DHd) abgehalten. Am letzten Tagungstag fand ein Panel zum Beitrag der Computational Literary Studies (CLS) zur Literaturgeschichtsschreibung statt, bei der der Autor dieser Zeilen nicht nur als studentisches Mitglied des Organisationsteams, sondern auch aus ureigenem Interesse teilnahm. Denn vom pragmatischen Nutzen für die (schulische) Lehre einmal abgesehen, begegnet uns Literaturgeschichte als die generationenübergreifende Arbeit an einem Werk. Sie erscheint damit sowohl als Produkt, als die Essenz eines kulturellen Bestandes, als auch als Prozess, dessen Genese. Trotz der wissenschaftslogischen Randständigkeit (Daniel Fulda[1]) der Literaturgeschichtsschreibung haben ihre Kontextualisierungen immer Einfluss auf uns, und deshalb war es für mich wie wohl auch für die anderen Besucher[2] des Panels von Interesse zu hören, wie die noch relativ jungen CLS unseren Blick auf Literaturgeschichte verändern mögen.

Unter der Moderation von Nils Kellner (Rostock) diskutierten die Panellisten PD Dr. Katrin Dennerlein (Würzburg), Prof. Dr. Berenike Herrmann (Bielefeld), Prof. Dr. Fotis Jannidis (Würzburg), Marc Lemke (Rostock) und Dr. Jana-Katharina Mende (Halle/Saale) über Nutzen und Nutzbarmachung sowie Reichweite und Grenzen der computergestützten Literaturwissenschaft für die Literaturgeschichte. Als Anwendungsfall diente die (computationelle) Untersuchung literarischer Räume im Zuge des „spatial turns“ innerhalb der Literaturwissenschaft.

Bei seiner Anmoderation stellte Kellner bereits zwei in der Folge gesprächsbestimmende, klassische Problemstellungen der Literaturgeschichtsschreibung heraus: Literaturgeschichte weist erstens einen erheblichen Konstruktionscharakter aus, ist kontextabhängig und einer Auswahl von Autoren und Werken (Stichwort Kanonizität) und damit teilweise auch artifiziellen Grenzziehungen unterworfen. Zweitens soll Literaturgeschichte gleichsam einer Bildungsintention gerecht werden – als common ground für Wissenschaftler wie auch der allgemeinen Schulbildung dienen –, womit Ansprüche an ihre Plausibilität, ihre relative Überschaubarkeit und ihre intersubjektive Verständlichkeit gestellt werden. Darüber hinaus – so schien auf dem Podium in der Folge Konsens zu herrschen – besteht bei der CLS, wie bei jeder anderen Literaturgeschichtsschreibung auch, die wohl größte Herausforderung darin, nach der objektiven Datenerhebung zu entscheiden, in welche historischen Kontexte ein spezifischer Befund eingebunden werden sollte.[3]

Wohl wenig überraschend bestand auf einem Panel auf der DHd-Tagung zunächst Konsens über den großen Vorteil der CLS im Hinblick auf diese Probleme: Große Textmengen, eingeschlossen des „great unread“ (Kellner; Formulierung von Margaret Cohen[4]), können mit vergleichsweise wenig Aufwand durchgesehen und auf Muster untersucht werden. Daraus ergeben sich Möglichkeiten der Rekontextualisierung von Literaturgeschichte. Ästhetisch hochwertige und/oder viel gelesene, aber heute vergessene Autoren könnten wiederbelebt, der Beitrag weiblicher Autoren angemessen beleuchtet werden. Nationalstaatlich motivierte Konstruktionen könnten – im neutralen Wortsinne – revidiert, ebenso erweitert wie aufgelöst werden, und so weiter. Der Reihe nach stellten die Redner mögliche Ansätze vor.

Mit Hilfe der computergestützten Vergrößerung von Daten und deren statistischer Modellierung sei es möglich, die diachrone Vereinfachung der Literaturgeschichtsschreibung durch eine Erweiterung des synchronen Blickfelds zu durchbrechen, kanonische neben nichtkanonischen Werken oder mehrere Editionen desselben Werks gleichzeitig zu betrachten (Dennerlein). In der klassischen Literaturwissenschaft unbeachtete Texteigenschaften könnten jetzt untersucht und Begriffe, bspw. von ‚Raum‘, über die diegetische Ebene erweitert werden (Lemke), u.a. auch um transnationale Literaturgeschichten zu erzählen und selbst die Räume einzuschließen, in denen bzw. von denen aus Autoren ihre Werke geschrieben haben (Mende). Schließlich könnten in der CLS auch ganz neue Fragen an die Literaturgeschichte gestellt werden, um zum Beispiel systematische Perspektiven zu Raum und Affekt diachron zu untersuchen; „der Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt“ (Herrmann).

Einen Einwand warf allerdings Prof. Jannidis in die Runde. Mit Rekontextualisierungen und lediglich neuen, anderen Literaturgeschichten blieben die CLS letzten Endes den Gedankenmodellen der klassischen Literaturwissenschaft verhaftet. Die soeben wiedergegebenen Überlegungen dürften nur als „Zwischenschritt“ betrachtet werden; Ziel der CLS müsse eine „prospektive Entfesselung“ sein. Die computergestützten Methoden machten immerhin das vormals Unmögliche möglich, und so sollten wir in voraussehbarer Zeit bspw. fähig sein, für die Literaturgeschichte alle Ereignisse rund um Literatur – jedes vorhandene Manuskript, jede Anstreichung, Verkaufszahlen, etc. – einbeziehen und interpretieren können. Gleichsam weist Jannidis eindringlich auf den hohen Ressourcenaufwand einer solchen Entfesselung hin; in seinen Worten: „Kein Manöver ohne Kosten“.

So anregend und notwendig diese Debatte auch ist, stellen sich insbesondere in Hinblick auf den zweiten Problempunkt, der Bildungsintention von Literaturgeschichte, unmittelbar pragmatische Fragen zum Nutzen der CLS für die Literaturgeschichtsschreibung hier und heute. Denn wie Prof. Herrmann betont und auch ich aus Erfahrung als Tutor bestätigen kann: Die Nachfrage nach grundlegendem Literaturgeschichts- und Kontextwissen ist gerade bei Studenten in der Lehramtsausbildung hoch. Was der Zugang der CLS hier leisten kann – so vielleicht die Kernerkenntnis aus Podiumsgespräch und Fragerunde – ist, die teilweise extreme diachrone Vereinfachung der klassischen Literaturgeschichte zu durchbrechen und das Überblickswissen um neue daten- und evidenzbasierte Ergebnisse zu erweitern.

Wie zum Abschluss gleich zwei Fragen aus dem Auditorium klarmachten, darf in diesem Kontext die „Entfesselung“ der CLS aber nicht zu einer Überforderung führen. Der einhellige Lösungsvorschlag aus dem Podium, um den Zugang auch für das Grundstudium und das außerwissenschaftliche Umfeld zu ermöglichen: Kondensierte, für den Anwendungskontext geeignete Visualisierungen, z.B. in Form narrativierter Daten in sogenannten Data Stories. Literaturwissenschaftler könnten aus der Datenwissenschaft lernen, wie sie das Bedeutende klar und übersichtlich visuell vermitteln können (und dabei an eigene Praktiken anschließen), wobei sie jedoch zweierlei zu bedenken hätten: Dass das Nadelöhr des Einzeltextes aus der Leserperspektive nie verschwinden wird (und zum Zwecke der ästhetischen Erfahrung wohl auch kaum verschwinden soll), und dass sich Wissenschaftler immer über die Pluralität von Perspektiven und die Wirkmächtigkeit vermeintlich repräsentativer Datenvisualisierungen bewusst sein müssen.

 

Zum Autor: Pierre-Michel Weiße studiert Germanistik und Anglistik im Master an der Universität Bielefeld und hat seine Bachelorarbeit über eine computerunterstützte Raumuntersuchung zu Thomas Manns Doktor Faustus geschrieben. Er ist Tutor im Germanistik-Basismodul Literaturgeschichte und wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl von Prof. Dr. Berenike Herrmann.

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Fulda, Daniel: Starke und schwache Historisierung im wissenschaftlichen Umgang mit Literatur. Zur Frage, was heute noch möglich ist – mit einer disziplingeschichtlichen Rückblende. In: Matthias Buschmeier, Walter Erhart, Kai Kauffmann (Hgg.): Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. De Gruyter 2014, S. 101–121, https://doi.org/10.1515/9783110287295.101, hier S. 104.

[2] In diesem Beitrag wird für Personenbezeichnungen das generische Maskulinum verwendet.

[3] Vgl. Herrmann, Berenike, Daniel Kababgi, Marc Lemke, Nils Kellner, Ulrike Henny-Krahmer, Fotis Jannidis, Katrin Dennerlein und Matthias Buschmeier: Literaturgeschichte „under Construction“ – Was können die Computational Literary Studies beitragen? Ein Panel zur digitalen Untersuchung von Raum in der Literatur. Zenodo 2025, https://doi.org/10.5281/zenodo.14943254, S. 117.

[4] Cohen, Margaret: The Sentimental Education of the Novel. Princeton: Princeton University Press 1999, https://doi.org/10.1515/9780691188249, S. 23.

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